Arkadien in Lappland

Ein Finnland-Fan

Der folgende Beitrag ist von unserem Mitglied André Debus. Er berichtet in diesem von seinen ersten Berührungen mit dem Land Finnland. Angefangen mit einer Empfehlung, das Land zu besuchen, dann Urlaub und schließlich regelmäßige Ausflüge in den hohen Norden nach Lappland haben ihn und seine Kunst letztendlich inspiriert.
Als Künstler zeichnet er das Land und schreibt seine Erfahrungen und Erlebnisse dazu auf.

Eines schönen Tages empfahl mir ein Freund, halb Finne, halb Deutscher, Finnland als das „schönste Land der Welt“ zu besuchen. Da ich ohnehin vorhatte Skandinavien zu bereisen dachte ich mir: „Warum nicht? Fange ich mal mit Finnland an.“ Also organisierte ich mir eine Rundreise über Helsinki, Lappeenranta, Olavinlinna, Kuopio, Oulu, Vaasa, Jyväskylä, Tampere, Hämeenlinna und Turku. Quasi einmal die Seenplatte und dazu eine Prise Ostseeluft. Spätestens nach meiner zweitägigen Schifffahrt auf dem Saimaa wusste ich, was Finnland ausmacht: viel Natur und wenig Menschen. Nächstes Jahr wollte ich noch mal hin. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in Turku hatte ich einen Tag auf einem Leihrad in die Schären hineingeschnuppert. Davon wollte ich mehr sehen! Also besuchte ich die Åland-Inseln, zu Finnisch Ahvenanmaa – das Land der Barsche. Es war ein herrlicher Sommer und ich erkundete den Archipel fast vollständig mit Rad und Fähre. Ich war völlig baff. Auch das sollte Finnland sein? Konnte ein Land voller blauer Seen und ewiger Wälder, sowie holzhäusergesäumter Küstenstädte zu allem Überfluss auch noch einen Schärengarten besitzen? Ich war mir sicher, auch nächstes Jahr muss ich wieder in dieses Wunderland fahren. Wegen der sprachlichen Hürde und meines wachsenden kulturellen Interesses belegte ich einen Finnisch-Kurs an der VHS.

Erste Abenteuer in Finnisch-Lappland

Denn da war noch etwas, was ich bislang nicht gesehen hatte: Lappland. Als Kind meinte ich, Lappland sei eine Art Märchenland, welches nur in Sagen existiert. Bis ich den Namen eines Tages in meinem Atlas fand. Trotzdem blieb Lappland für mich immer irgendwie abstrakt. So wie etwa China oder Indien. Länder, von denen man wundersame Erzählungen in Büchern liest, die aber für mich keine erreichbaren Ziele darstellten. Da ich nun aber schon bis Oulu gekommen war, reifte in mir der Plan einen Anschlussflug von Helsinki nach Finnisch-Lappland zu nehmen. Nur was sollte ich dort machen? Hotelressourts sind nicht so meins, gebuchte Safaris auch nicht. Sollte ich mich auf eine der Wanderrouten in die Nationalparks wagen? Schließlich sind die wahren Schönheiten Lapplands in der Natur zu finden. Daher wählte ich mir drei Ziele aus: den Wanderpfad durch den Kevo-Nationalpark, ein paar Tage im Urho-Kekkonen-Nationalpark und die Bärenrunde im Oulanka-Nationalpark. Gute Güte, was war ich aufgeregt! Was sollte ich tun, wenn ich einem Bären begegnen würde? Gut kann ich mich noch an die erste Nacht in meinem Zelt an einem ausgewiesenen Platz im Kevo-Nationalpark erinnern. Ich hatte solch eine Angst, dass ich nicht schlafen konnte. Jedes Geräusch jagte meinen Puls in die Höhe. Ich hatte nicht einmal mehr den Mut auch nur mein Innenzelt zu öffnen, um einen Blick nach draußen zu werfen. Ich lag im Dunkeln, mein Herz pochte bis in den Hals und ich fror und schwitzte zugleich. Später las ich in einem Buch etwas über den Begriff „Trail Shock“ – die Angst der ersten Nächte im Zelt. Geräusche, die unser Gehirn nicht einordnen kann, lassen unsere inneren Alarmglocken schrillen. Es dauert einige Zeit, bis unser Hirn die verschiedenen akustischen Signale, welche ins Zelt dringen, zuordnen kann. Die klackernden Gelenke der Rentiere beispielsweise, die gerne auch mal übermütig herumtollen, wenn sie keine Gefahr wahrnehmen. Das Rascheln der Mäuse und Vögel. Das Stöbern, Schmatzen und Schnaufen kleinerer Säugetiere. In Mitteleuropa verbringt man schon eine schlaflose Nacht, wenn man auch nur eine einzige Stechmücke im Zimmer hat. Dabei hält uns nicht nur der Gedanke an den möglichen Stich, als auch das sägende Geräusch des suchenden Tieres wach. Wie soll man da eine Nacht mit dutzenden solcher Tiere in Lappland überstehen können? Die Antwort ist Gewöhnung. Zunächst hält uns das Geräusch sicherlich wach. Aber mit der Zeit beginnt unser Gehirn zu verinnerlichen, dass uns unter unserem Mückenschutz oder in unserem Innenzelt keinerlei Gefahr vor den gierigen Blutsaugern droht. Heute, nachdem ich zahlreiche Monate in der lappischen Tundra und den Wäldern des Nordens verbracht habe, gibt es kein sichereres Mittel mich zum Einschlafen zu bringen als das monotone Summen von einem Dutzend Stechmücken, welches mein Innenzelt umschwirrt. Auch zuhause wache ich vom Geräusch einer Mücke nicht mehr auf. Was mich fast ebenso gut zum Einschlafen bringt, ist Regen, welcher auf die Zeltplane trommelt. Das Geräusch ist ähnlich hypnotisch wie das der Mücken. Trocken in meinen warmen Schlafsack eingemummelt schiele ich aus meinen Augenwinkeln und beobachte wie Millionen glitzernder Wassertropfen Astwerk und Moos bedecken, wohl wissend, dass ich in meinem Zelt trocken bleibe. Neben den nächtlichen Geräuschen lernt man über die Jahre auch seine Ausrüstung kennen und schätzen: nicht nur das Zelt, sondern auch seinen Schlafsack, die Isomatte, den Kocher und all die anderen notwendigen Dinge, die man so mit sich führt.

Ein ungewöhnliches Geräusch ist der Wind im hohen Norden. Da ich aus einer holzerntenden Familie komme, kenne ich die Geräusche des Waldes bereits seit meiner frühen Kindheit. Auch schon vor Lappland habe ich unzählige Tage in den nahen Wäldern verbracht: zum Lesen, Zeichnen oder Wandern. Das Knarren der Baumstämme im Wind und das Rauschen des Blattwerkes erschrecken mich nicht. Doch wie anders klingen diese Geräusche in Lappland! Hier kreisen die Böen und greifen mal hier und mal da in die Kronen der weit auseinanderstehenden Bäume. Die trockenharten Blätter der Birken klappern wie Rasseln. Wasserläufe gluckern, plätschern und murmeln ihre eigene Sprache. Böse heult der Wind auf den kahlen Tunturis.1) Lange habe ich gebraucht, bis ich mich an diese Geräusche gewöhnen konnte. Doch heute fühle ich mich wie eine Katze in ihrem Korb und schlafe nur umso tiefer, wenn die Windmühle wieder einmal kreist.

Lapinhullu

Meine ersten Wanderungen in Lappland waren ein großes Erlebnis für mich. Vielleicht nicht die Erfüllung meiner Kindheitsvorstellungen vom geheimnisvollen Lappland mit der freundlichen Schneekönigin, aber jene Tage beim Wandern in dieser wildspröden Natur rührten eine mir bis dahin unbekannte Saite an. Ein Gefühl, dass da etwas Erhabenes ist, eine neue Wahrnehmung auch des eigenen Körpers und daraus wieder ein gesteigertes Selbstwertgefühl, welche auch in meinen Alltag herüberstrahlt. Und auch ein gewisser Zauber, der schwer in Worte zu fassen ist. Ein älterer Herr an einer Laavu2) im Osten des Urho-Kekkonen-Nationalparkes versuchte mir auf Finnisch, Englisch und mit Händen und Füßen zu erklären, dass mich die „lapinhullu“3) befallen würde, wenn ich erst mal eine Nacht in der Wildnis Lapplands übernachten würde. Und genau so kam es. Schon im folgenden Jahr musste ich wieder hin. Ich war süchtig geworden. Diesmal setzte ich einen drauf. Ich entschloss mich die ausgewiesenen Wege des Lemmenjoki-Nationalparks zu verlassen und die Maarestatunturis zu durchstreifen.4) Schon die Namen der Orte klangen wie geheimnisvolle Versprechungen: Peuranampumapää, Searitjärvi, Vaskojoki, Jäkäläpää und Latnoaivi. Alle diese Plätze sollten für ein paar Stunden oder gar eine Nacht nur mir allein gehören. Entschlossen packte ich mein Zelt an meiner letzten Station, dem Zeltplatz Ravadasjoki, zusammen und folgte dem Bachlauf des oberen Ravadas durch den Wald stromaufwärts, bis ich an den Ravadasjärvi kam, einem kleinen See, der bereits in den Maarestatunturis liegt. Laut Plan wollte ich nun den Peuranampumapää besteigen, von wo ich ein paar weitere Kilometer weiter bis an den Searitjärvi hätte, meinen anvisierten Übernachtungsplatz. Bis ich auf dem Gipfel war, hatte sich das Wetter verdüstert. Unter dem schweren Himmel sah ich in der Ferne tröstlich die silberne Scheibe des Sees glänzen. Ich stellte meinen Kompass ein, was ich mehrfach in den heimischen Wäldern geprobt hatte, und tauchte dann in die Baumgrenze ein. Das Wunder geschah: die Nadel führte mich ans Ziel! Mit dieser neuerworbenen Freiheit ging für mich ein Glücksgefühl einher, welches ich bis dahin nicht kannte. Ich hatte bewiesen, dass ich kein Zivilisationsgefangener bin, dass ich mich auch in einem wegelosen, mir unbekannten Gebiet zurechtfinden konnte. In mir, wie in uns allen, ist ein überlebenswilliger, zäher Kern, der uns in Situationen führt, die uns fremd oder gar unheimlich sind. So aufregend dieser erste Schritt auch war – umso reichere Erfahrung und Erkenntnis hat er mir zugeführt. Ab diesem Punkt war die Welt für mich nicht mehr verschlossen, sondern weit geöffnet. Ich kann ja überall meinen Fuß hinsetzen. Es gibt keine Grenzen mehr, die durch Wege, Ortschaften und Hotels definiert werden, sondern die Welt steht mir in alle Richtungen offen. Jeder Baum, jeder Fels, jeder Schein in der Ferne lockt mich und sagt: Komm! Sieh mich an! Folge meinem Glanz!

Verirrt

Ein weiterer Ausflug in die weglose Wildnis führte mich in die Paistunturis. Hier erhielt mein neuerworbenes Selbstbewusstsein jedoch einen argen Dämpfer. Auf der Suche nach einem historischen Rentierscheideplatz ging ich den Hang eines doppelgipfeligen Tunturis entlang. Wo ich den Ort vermutete, fand ich ihn jedoch nicht. Also ging ich weiter. Irgendwann hatte ich sowohl nicht nur den Platz nicht gefunden als wusste ich auch nicht mehr, wo ich mich genau befand. Ich konnte nur mehr einen Bereich in der Karte einkreisen, in dem ich mich aufhielt. Das Wetter verschlechterte sich, es begann zeitweise zu regnen und stellenweise zog dichter Nebel auf. Nach dem ersten Schrecken der Erkenntnis, dass ich mich verirrt hatte, nahm ich mir Karte und Kompass und entschied mich in eine Richtung zu gehen, in der ich auf ein lang gezogenes Tal stoßen musste, in welchem ein See liegt und an diesem wiederum eine Wildnishütte. Ein paar Stunden musste ich bei schlechtem Wetter geradeaus durch Sümpfe, über Steilpassagen und nassglattes Geröll wandern. Die Senke mit dem See fand ich schließlich. Erschöpft begab ich mich zu der dortigen Tageshütte, wo ich Feuer machte und mich mitten am Tag für mehrere Stunden schlafen legte. Wieder in Deutschland war meine erste Handlung mir ein GPS-Gerät zu bestellen. Mittlerweile verwende ich eine Uhr mit integriertem GPS und bin sehr dankbar dafür. Man kann seine Routen auf dem präzisen Kartenmaterial bereits zu Hause planen und dann auf dem Gerät speichern. Puristen sind keinesfalls gezwungen auf Kompass und Karte zu verzichten. Aber bei Unsicherheit kann man auf das Gerät sehen und seinen genauen Standpunkt verifizieren. Es gibt beim Wandern auch mal schlechte Tage. Tage, an denen die Gesundheit nicht so gut ist, Tage, an denen man von den Strapazen angegriffen ist oder an denen so schlechtes Wetter herrscht, dass man nur noch an seinem Lagerplatz ankommen möchte. Dann stelle ich mir die Navigation an und lasse mich bequem von meinem Gerät zum Ziel leiten. GPS-Geräte lassen auch mehr Zeit, sich die Umgebung zu betrachten. Sofern man sie richtig einsetzt, sind sie ein definitiver Zugewinn.

Aber auch hier war der Lernprozess noch nicht abgeschlossen, wie er es ja nie wirklich ist. Jedes Jahr habe ich wieder unangenehme Erlebnisse, die dann zu Erfahrungs- „Werten“ wurden. Zunächst hatte ich auch in wegeloser Wildmark Tagestouren von zwanzig und mehr Kilometern eingerechnet. Gut kann ich mich an einen Tag im Käsivarsi erinnern, den ich als „Ruhetag“ eingeplant hatte. Mein Plan waren an diesem Tag „nur“ etwa zehn Kilometer vom Meekonjärvi bis zum Porojärvi zu gehen. Es war sehr regnerisch und ich hatte im Tal des Poroeno nur die Wahl zwischen nassen Blocksteinfeldern und Sumpfdurchquerungen. Für diese zehn Kilometer brauchte ich sage und schreibe zehn Stunden. Ich war auf das Äußerste erschöpft. Am folgenden Tag musste ich eine Zwangspause einlegen. Da ich für diesen Tag jedoch wiederum vierundzwanzig Kilometer eingeplant hatte, wurde meine weitere Reiseplanung völlig auf den Kopf gestellt. Aber das Ganze hatte auch etwas Gutes. Nämlich einen wunderbaren, ruhigen und sonnigen Tag an der Schutzhütte am Porojärvi und zwei silberglänzende Vollmondnächte, in denen ich die kleine Landzunge auf und ab lief. Die herrliche Spätsommerstimmung konnte ich nur deshalb so genießen, weil ich ausgeruht war, und ich habe den Aufenthalt bis heute als einen meiner schönsten Lapplanderlebnisse im Gedächtnis. Natürlich habe ich auf den folgenden Touren aus dieser Erfahrung heraus meine Tagesstrecken deutlich verringert. Heute plane ich nur noch etwa fünf bis maximal zehn Kilometer pro Tag im wegelosen Gebiet ein. Außerdem plane ich ein bis zwei Ruhetage die Woche ein, an denen ich mein Zelt stehen lasse. So habe ich genug Zeit für Foto- und Filmaufnahmen, Tagebucheinträge, Feuerholz sammeln und zerkleinern, Essenszubereitung, Kaffeepausen und natürlich das Zeichnen, welches für mich einen hohen Stellenwert bei meinen Touren hat. Und: man kann sich auch einfach mal für eine Stunde hinsetzen und die Landschaft betrachten. Wenn man sich erst mal darauf einlässt, ist das eine ganz besondere Erfahrung. Andere Fernwanderer haben mir meine persönliche Erfahrung bestätigt, dass die ersten zehn Kilometer das sind, was man eigentlich unter Wandern versteht. Doch ab einer bestimmten Kilometerzahl läuft man nur noch. Den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern, Schritt für Schritt, von A nach B. Probieren Sie es mal aus. Wie viele Bilder der Landschaft behalten Sie im Kopf, wenn Sie lange Distanzen laufen? Irgendwann hat man nur noch eine einzige bildhafte Erinnerung: sobald man seine Augen schließt, sieht man das endlose Band des vorbeizeihenden Bodens, über den man gelaufen ist. Wirkliches Wahrnehmen und tiefe Erfahrungen beginnen mit Langsamkeit.

Sümpfe und Mücken

Die Planung der Tagesetappen war nicht die einzige Herausforderung, die ich meistern lernen musste. Bei einer Wanderung durch die Wälder Nordkareliens meinte ich ohne Innenzelt reisen zu können, um mir etwas Gepäck einzusparen. Sagen wir es mal so: viel geschlafen habe ich nicht. Die Stechmücken haben mich völlig zerbissen. Trotz der warmen Temperaturen musste ich mich komplett mit meinem Schlafsack zudecken. Ich war in Schweiß gebadet. Über mein Gesicht habe ich einen Filzhut gelegt. Die Tour war reiner Masochismus. Ohne Innenzelt oder Moskitonetz werde ich jedenfalls nicht mehr in Finnland wandern.

Oder die Sache mit den Sümpfen. Bei den ersten Touren lernt man zunächst mal, dass Sümpfe nicht halb so gefährlich sind, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Gut ja, die Füße werden nass. Aber man wird nicht von geheimnisvollen Kräften in die Tiefe gezogen.5) Ich wurde mit jeder Durchquerung und jeder neuen Tour selbstsicherer, bis der Tag kam, an dem ich etwas für mich Neues über Sümpfe lernen musste. In Sümpfen gibt es nämlich Priele, durch die das Wasser abläuft. Diese Priele sind nicht unbedingt breit, können aber gerne mal einen Meter tief sein und sind auf der wassertragenden Sumpfoberfläche nicht auszumachen. In so einen Priel bin ich getreten, habe dann natürlich mein Gleichgewicht verloren und bin mit dem Bauch nach vorne in den Sumpf gestürzt, wobei ich mir auch noch mein rechtes Knie an einem ausgewaschenen Felsen aufgeschlagen habe. Ich war komplett nass und mein Kartenmaterial auch. Zu diesem Zeitpunkt war ich auf einer Tagestour und hatte mich ein paar Kilometer von meinem Zelt entfernt. Die Außentemperatur betrug etwa fünf Grad Celsius und das bei strengem Nordwind. Lassen Sie sich und Ihre Kleidung mal unter solchen Umständen lufttrocknen! Es hat schon funktioniert, war aber so eine Strapaze für meinen Körper, dass ich am Abend solche Kopfschmerzen bekam, dass ich mich davon erbrechen musste. Doch auch dieses Erlebnis hat mir wertvolle Erkenntnisse gebracht. Nicht nur, dass es in Sümpfen Priele gibt, sondern auch etwas über die Zähigkeit und Überlebensfähigkeit unseres Körpers. Unser Körper ist ideal ausgestattet, um im Freien zu leben und gegebenenfalls auch zu überleben. Hormonausschüttungen, Temperaturregulierung, Schmerzbewältigung, eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit und nicht zuletzt unser leistungsfähiges Gehirn, welches vorausschauend planen und in Notsituationen kreative Lösungen findet, machen uns zu außerordentlich überlebensfähigen Kreaturen. Und selbst wenn wir unser ganzes Leben in temperierten Räumen großer Städte verbringen, hat unser Körper diese Fähigkeiten nicht verlernt. Ein paar Tage mit dem Zelt in der Natur weckt in jedem von uns wieder diese Anlagen, welche wir von unseren Vorfahren ererbt haben.

Arkadien jenseits des Polarkreises

Diese Reisen sind für mich ein unbedingter, notwendiger Teil meines Lebens geworden. Jedes Jahr fahre ich für ein paar Wochen dorthin. Dann lasse ich unsere verrückte Welt hinter mir und bekümmere mich nur noch ums Dasein. Tatsächlich reduziert sich unser Leben in der Wildnis sehr schnell auf ganz wenige Notwendigkeiten: Essen, Schlafen und Wärme. Ich ziehe durch die niedrigwachsenden, subarktischen Wälder und Tundren, vorbei an Seen, wate durch Sümpfe und überquere Blocksteinfelder. Ich sehe auf den kahlen Rücken der Fjälls wie sich ein Gewitter auf mich zubewegt. Spaziere im Mondenschein, weil es so schön ist. Bewundere Nordlichter. Höre die Geräusche der zahlreichen kleineren und größeren Tiere. Das unbeschreibliche Geräusch des nordischen Windes, der sich in kreisenden Böen über der kargen Landschaft bewegt. Das plappernde Geräusch zahlreicher Bäche. Das Klappern der harten Birkenblätter. Ich rieche den Moder der Sümpfe, den Duft alter Kiefern und den Rauch des Lagerfeuers. Ich will nur noch leben. Ich schmecke den Kaffee, den Kartoffelbrei mit Pemmikan, die Moltebeeren, die Krähenbeeren, die Blaubeeren. Ich spüre das kaltnasse, weiche Moos unter meinen nackten Füßen, den scharfen Nordwind, die kurz wärmende Nachmittagssonne. Den Schmerz nach Stürzen, die müde Muskulatur, die wunden Füße, das Wasser, welches mich bei Flussdurchquerungen mitreißen möchte. Angst wenn der Nebel aufzieht. Der Schrecken, wenn plötzlich ein ausgewachsener Elch in einer Senke vor mir auftaucht. Erschöpfung. Aber auch die Kraft, Zähigkeit, Anpassungs- und Überlebensfähigkeit meines eigenen Körpers. Sich selbst finden und Selbsterkenntnis sind beliebte Schlagworte unserer heutigen Gesellschaft. Ich kann jedem nur empfehlen, sich einmal auf das Abenteuer Wildnis einzulassen. Nirgendwo anders kann man über sich so viel erfahren wie in den Einöden des Nordens. Mein Arkadien liegt in Lappland.

  1. Tunturis sind Hügel, deren Gipfel in der baumlosen Zone liegen. Diese beginnt in Lappland auf niedriger Höhe, teils schon bei 350 bis 400 Metern. Die Tundra ist eine der charakteristischen Landschaftsformen Finnisch-Lapplands und strahlt zu allen Jahreszeiten einen ganz besonderen Reiz aus.
  2. Eine Laavu ist ein einseitig offener Schutzraum aus Holz. Zur offenen Seite hin ist eine Feuerstelle angelegt. In Finnland findet man an den Wanderwegen zahlreiche Laavus, in denen man auch übernachten kann. Allerdings sollte man im Sommer ein Mückennetz dabeihaben.
  3. Das Wort „lapinhullu“ wird im Finnischen umgangssprachlich verwendet und bedeutet so in etwa „Verrücktheit nach Lappland“. Wen es immer wieder nach Lappland zieht, der ist von der lapinhullu befallen.
  4. In den Nationalparks Finnlands gibt es genaue Vorschriften. Oftmals darf man sein Zelt nur an entsprechend ausgewiesenen Stellen aufstellen, in Kerngebieten darf man teils auch die Wege nicht verlassen. Im Lemmenjoki und im Urho-Kekkonen-Nationalpark sind große Gebiete jedoch frei begehbar. Hier gilt das sogenannte Jedermannsrecht. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Begriff häufig missverstanden wird. Die Rechte zu campieren und sich frei zu bewegen sind nämlich auch an Pflichten gebunden. Die wichtigste Grundregel ist den Platz so zu hinterlassen, wie man ihn vorgefunden hat. Auch das Feuermachen ist an Vorschriften gebunden, über die man sich vorab informieren sollte. Informationen auf Englisch findet man auf der Seite www.luontoon.fi. Auf dieser vorbildlich geführten Seite wird man auch fündig, wenn man nach Wanderrouten, Anfahrtsmöglichkeiten oder Übernachtungsgelegenheiten sucht.
  5. Ich bin auch schon bis zu den Knien in Erdschlamm eingesunken. Aber wenn man sich dann auf seinen Hintern setzt, hat man genug Oberfläche, um die Füße nacheinander wieder rauszuziehen. Aufpassen muss man nur, dass man seine Schuhe dabei nicht verliert. Es ist daher von Vorteil gute Wanderschuhe zu haben, die man sorgfältig schnürt. Fies an so einem Erlebnis ist natürlich die riesige Sauerei, die das Ganze nach sich zieht. Der feine Erdschlamm dringt überall ein. Danach muss man erst mal die Schuhe und Socken auswaschen. Bei regelmäßigen Sumpfdurchquerungen nehmen auch die Füße und Zehnägel eine hässliche braungelbe Färbung an, die erst nach ein paar Wochen in der Zivilisation langsam wieder verblasst.

Wenn es euch interessiert, wie so eine Reise von André aussieht, wo er sich aufhält und was zum Tagesablauf gehört, dann könnt ihr euch folgendes Video von ihm ansehen.

Hammastunturit elokuu 2022

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

* Als Amazon-Partner verdient dfg-nuernberg.de an qualifizierten Verkäufen über Partner-Links eine Provision. Das kostet euch keinen Cent zusätzlich, ihr könnt uns aber damit sinnvoll und einfach unterstützen. Erfahrt hier mehr über solche sogenannten Affiliate-Links.

Unser Newsletter für Finnlandfreunde!

Erhalte aktuelle News zum Verein, über Ereignisse aus Finnland und bleibe somit auf dem Laufenden.